Architektur Forum Ostschweiz

Erbe und Aufbruch

Mitten in St.Gallen steht seit Sommer 2022 ein siebenstöckiges Holzhaus. Es ersetzt nicht nur einen geschichtsträchtigen Bau, sondern zeigt – weit weg von Chalet-Romantik –, wie ein zeitgemässes Bürogebäude aussehen kann.

Beitrag vom 30. März 2023

Text: Stefanie Haunschild

  • Bild zum Beitrag Der Neubau steht am Platz eines Bauwerks, in dem sich über 70 Jahre lang das italienische Konsulat befand. Gestaltet haben das moderne Bürohaus die Architekt*innen von Harry Gugger Studio.
  • Bild zum Beitrag Der Bauplatz ist beengt. Der Holzbau mit seinem hohen Vorfertigungsgrad erwies sich in dieser Situation auch logistisch als überaus vorteilhaft.
  • Bild zum Beitrag Die Fassade des Bauwerks besteht aus Glasfaserbeton. Dadurch entsteht ein stärkerer Bezug zu den Nachbarbauten, die verputzt oder mit Naturstein verkleidet sind.
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  • Bild zum Beitrag Im Inneren ist der Naturbaustoff Holz allgegenwärtig und sorgt für ein behagliches Raumklima. Der Teppich wurde aus Schafwolle hergestellt.

Es ist ein besonderer Standort, aufgeladen mit Bedeutung und Erinnerungen, gelegen direkt neben dem Roten Platz: Das Grundstück an der Frongarten­strasse 9 in St. Gallens Bleicheli-Quartier weist eine wechselvolle Geschichte auf. Über 70 Jahre lang, von 1943 bis 2014, befand sich hier das italienische Konsulat – einst eingerichtet, um die von Textil- und Bauindustrie in die Ostschweiz geholten Gast­arbeiter°­innen zu unterstützen, und eine wichtige Anlaufstelle für die italienische Gemeinde in der Ostschweiz. Nach der umstrittenen Schliessung des Konsulats im Jahr 2014 erwarb die Ärztekasse medisuisse das Grundstück. Zuvor hatten Italiener°innen noch engagiert gegen die Schliessung demonstriert und das Konsulat sogar besetzt – erfolglos.

medisuisse führt eine Pensionskasse und versichert Mediziner°innen. Bis anhin war die Ärztekasse in zwei Gebäuden am Oberen Graben praktisch in der Nachbarschaft eingemietet. Aufgrund des baulichen Zustands des Konsulats und auch wegen der kleinteiligen Raum­struktur stand für die Bauherrschaft eine Instand­setzung respektive ein Umbau nicht zur Debatte. Die medisuisse entschied sich für einen Neubau. Dafür bedurfte es jedoch zunächst planungsrechtlicher Anpassungen, konkret war ein Sonder­nutzungs­plan nötig. Denn im Quartier war nur eine Bauhöhe von fünf Geschossen plus Attika erlaubt. Doch das Unternehmen wünschte sich ein weiteres Vollgeschoss, also sieben – analog zur 2012 erbauten Kantonalen Verwaltung nebenan aus der Feder des Büros jessenvollenweider.

Das Gebäude stand also erst einmal leer, bis die medisuisse es der Stadt als Standort für eine kulturelle Zwischennutzung anbot. Der Veranstaltungs­raum Nextex und das Kultur­magazin Saiten zogen ein und mit ihnen etliche andere Kulturschaffende: Von Januar 2017 bis Mitte 2020 wurde aus dem einstigen Consolato d’Italia das Kulturkonsulat.

Holz ist die Antwort

2019 wurde der Sonder­nutzungs­plan schliesslich genehmigt, und im Sommer darauf zogen die Kultur­schaffen­den wieder aus. Für die Planung des Neubaus lud die medisuisse sechs Schweizer Architektur­büros zum Wettbewerb ein. Ihr Wunsch: ein zeit­gemässer Bürobau für rund 70 Mitarbeitende, städtebaulich selbstbewusst positioniert, aber in Bezug zur Umgebung stehend.

Siegreich hervor ging die Idee des Basler Büros Harry Gugger Studio. Dessen Entwurf gibt kluge und zeitgemässe Antworten auf Fragen, die sich aufgrund des Standorts und der Bauaufgabe stellen. Zum einen: Aus dem Bleicheli-Quartier, einst ein Handwerkerviertel, war in den letzten Jahrzehnten eine Bürogegend geworden – auch, aber nicht nur durch die neuen Raiffeisen-Gebäude in der Nachbarschaft. Wie kann ein zeitgemässes Bürohaus in dieser Umgebung aussehen? Und zum anderen die Dichte des Quartiers: Die engen Strassen und der beschränkte Platz auf dem Grundstück liessen eine komplizierte Baustellenlogistik erwarten. Wie damit umgehen?

Die Architekt°innen schlugen einen siebenstöckigen Solitärbau vor. Er hält Abstand zu den Nachbarn, nimmt aber in seinen Proportionen die Gebäudelinien der umgebenden Bauten auf. Die oberste Etage ist als Attika mit einer Dachterrasse Richtung Frongarten­strasse ausgebildet. Es handelt sich um eine reine Holz-Beton-Hybridkonstruktion – ein Novum in der Innenstadt von St. Gallen. Mit seinen sieben Geschossen ist der Bau das höchste Holzhaus der Stadt. Für eine dichte Stadtbebauung ist das ungewöhnlich, denn Holzbauten waren hier nach den grossen Stadtbränden im Mittelalter, der letzte ereignete sich im Jahr 1418, eher unüblich.

Dass nun wieder mit Holz gebaut werden kann, ermöglichen neue Holzbautechnologien ebenso wie die 2015 in Kraft getretenen überarbeiteten Brandschutznormen. Sie sehen beispielsweise vor, dass die tragenden Bauteile aus Holz so dimensioniert werden, dass ihre Tragfähigkeit auch nach 90 Minuten im Feuer noch ausreichend ist, der Bau also nicht einstürzt. Neben der Nachhaltigkeit liegt der Vorteil eines Holzbaus in diesem Fall aber vor allem in der Vorfabrikation: Grossflächige Elemente, teilweise mit schon eingebauten Fenstern und Stützen, wurden beim Holzbauer aus heimischem Holz angefertigt. Auf der Baustelle mussten sie nur noch montiert werden, was die Bauzeit erheblich verkürzte und zu weniger Einschränkungen für die Anwohnerschaft führte.

So unbestritten die Vorteile von Holz sind, hinsichtlich der Fassade entschieden sich die Planer*innen trotzdem gegen den Naturbaustoff. Sie wünschten sich eine Fassade, die sich an die verputzten oder mit Naturstein verkleideten Gebäude der Nachbarschaft anlehnt, gleichzeitig aber auch dem Leichtbau der Holzkonstruktion dahinter entspricht. Die Wahl fiel auf eigens angefertigte konkave und gewellte Elemente aus grünlich-grauem Glasfaserbeton. Sie wirken fast steinern, gleichzeitig aber leicht und – passend zur Textilstadt St. Gallen – zart wie ein Vorhang im Wind. Das elegante Grün-Grau strahlt zusammen mit den messingfarbenen Fensterrahmen eine fast italienische Eleganz aus – ein Massanzug für das Haus und vielleicht auch eine feine Reminiszenz an den Vorgängerbau.

So knapp wie möglich, so gross wie nötig

Im Innern dagegen ist das Holz sicht- und spürbar. Ein Betonkern im Zentrum beherbergt die Aufzüge und das Treppenhaus, darum liegen ringförmig die offenen Büroräume. Sie sind fast völlig frei von Stützen und können auf Wunsch unterteilt werden. Perforierte Platten in den Decken sorgen für gute Akustik, dahinter versteckt sich eine neuartige Form der Klimatisierung: Düsen blasen Kaltluft auf die darüber liegende Betondecke, die wiederum so den Raum kühlt. Die raumhohen, auf Brüstungshöhe unterteilten Fenster lassen sich zusätzlich öffnen.

Die Bau- und Planungszeit fiel mitten in die Corona-Pandemie und damit auch in eine Zeit, in der gängige Büroformen hinterfragt wurden. Dabei zeigte sich, dass sich das vorgeschlagene Konzept bewähren würde: Die Räume – weitgehend als offene Bürofläche angelegt – sind so dimensioniert, dass sie nicht leer wirken, auch wenn ein Teil der Belegschaft im Home-Office arbeitet. Gleichzeitig bieten sie auch bei Vollbelegung genügend Platz und Ruhe. Das Holz und auch der Teppich aus Schafwolle tun ebenfalls ihre Wirkung: Statt vor einer kühlen Büroatmosphäre ins Home-Office zu fliehen, können sich die Mitarbeitenden hier einfach bei der Arbeit wie zu Hause fühlen.

Bildnachweis

Beni Blaser

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