Mehr als nur Schutzbauwerk
Im Bergell entsteht derzeit ein riesiges Bauwerk, das zukünftig nicht nur die Menschen und ihre Häuser schützen soll, sondern auch die einmalige Kulturlandschaft.
Beitrag vom 1. September 2022
Text: Daniela Meyer
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Fünf Jahre sind vergangen seit dem letzten Bergsturz im Bergell, als sich die Gesteinsmassen des Piz Cengalo bis ins Tal ergossen und dort grosse Schäden anrichteten. Inzwischen ist die Planung des Wiederaufbauprojekts «strata» abgeschlossen; letzten Herbst wurde mit den Bauarbeiten in Bondo, Promontogno und Spino begonnen. Bei der Bauherrin, der Gemeinde Bregaglia, und dem Tiefbauamt des Kantons Graubünden, das die Projektleitung innehat, nimmt das Jahrhundertprojekt eine besondere Stellung ein – genauso wie bei den beteiligten Planerinnen und Planern. Die Landschaftsarchitektin Martina Voser und der Ingenieur Gianfranco Bronzini gehören dem grossen interdisziplinären Team an und geben uns einen Einblick in ihre Arbeit.
Herr Bronzini, Sie sind regelmässig auf der Baustelle im Bergell. Welche Eindrücke bringen Sie mit?
Gianfranco Bronzini: Was wir momentan sehen, ist erst ein kleiner Teil des gigantischen Eingriffs, den wir dort vornehmen. Von den Strassen und Brücken ist heute noch nichts zu erkennen. Derzeit finden Arbeiten im Flussbereich statt, wo die Baggerfahrer Stein für Stein aufeinanderschichten, um die seitlichen Schutzdämme zu erstellen. Dabei ist erkennbar, dass diese aus zwei Materialien bestehen: Die untere Stufe bilden Blöcke aus Soglio-Quarzit, die obere Stufe besteht aus Bondasca-Steinen, die etwas heller und rundlicher sind.
Beim Bondasca-Granit handelt es sich um jene Steine, die ins Tal hinunterstürzten. Eine logische Konsequenz, sie für den Wiederaufbau zu verwenden?
Martina Voser: Dieser Gedanke mag naheliegend erscheinen, doch unsere Absicht bestand anfänglich darin, den ortstypischen Soglio-Quarzit zu verwenden. Als wir den nahen Steinbruch besichtigten, realisierten wir, dass wir dort ein riesiges Loch in den Berg graben müssten, um das notwendige Material zu gewinnen. Währenddessen drohten die vielen Steine, die uns der Piz Cengalo gebracht hat, ungenutzt auf der Deponie liegenzubleiben.
GB: Wir stellten Nachforschungen an und fanden heraus, dass der Bondasca-Granit eine sehr gute Qualität aufweist und sich relativ einfach spalten lässt. Mit einem eigens dafür entwickelten Gerät werden die Steine nun in der Deponie zerkleinert, damit sie sowohl für die grossen Stützmauern entlang der Strassen als auch für die dorfseitigen Trockenmauern eingesetzt werden können.
Kommen nebst den verschiedenen Steinarten also auch unterschiedliche -grössen zum Einsatz?
MV: Ein wahrnehmbarer Verlauf bei den Steingrössen war für uns ein zentrales Anliegen. Oben, wo die Menschen daran vorbeikommen, sind sie kleiner. Sie vermitteln zwischen verschiedenen Massstäben: dem riesigen Bachbett, das den Naturgewalten standhalten muss, und den Orten, an denen sich der Alltag der Menschen abspielt. Uns interessierte von Anfang an auch, was hinter den Böschungen und Mauern passiert. Wir wollten die Übergänge so gestalten, dass sie eine Feinheit erhalten, die den Menschen, die dort leben, gerecht wird.
Diese Gestaltungsmassnahmen, die sich den Übergängen vom Schutzbauwerk zur Siedlungsstruktur widmen, überzeugten die Jury beim Wettbewerb. Gibt es weitere Beispiele dafür?
MV: Der Verzicht auf klassische Hangböschungen zwischen dem Damm und den Häusern ist ebenfalls ein solcher Kunstgriff. Stattdessen terrassieren wir das Gelände mit kleinen Stufen und interpretieren die Terrassengärten neu, die im Bergell seit jeher existieren. Die horizontalen Flächen können zukünftig als Gemeinschafts- oder Privatgärten genutzt werden. So generiert der Infrastrukturbau einen Mehrwert für die Leute, die dort leben. Da sich unsere Siedlungsräume stark ausgedehnt haben, rücken die Naturgefahren immer näher. Schutzbauten müssen zukünftig mit dem Kontext eines Ortes verwoben werden.
GB: Das gilt auch für die hohe Hochwasserschutzwand in Spino, deren Erscheinung im dorfnahen Kontext von grosser Bedeutung ist. Wir haben die gekrümmte Form in kurzen Bauabschnitten geplant. Die Realität auf der Baustelle sieht aber anders aus: Um rascher bauen zu können, werden längere gerade Abschnitte bevorzugt.
Bedeutet das, dass Ihre Arbeit auch aus der Vermittlung zwischen unterschiedlichen Arbeitskulturen besteht?
GB: Ja, häufig nehmen wir tatsächlich eine Vermittlerrolle ein. Wir erklären den Beteiligten die Bedeutung und Wirkung solcher Unterschiede. Wer zum Dorf läuft und auf die Mauer blickt oder daran vorbeifährt, soll eine kontinuierliche Mauer wahrnehmen. Was dort gebaut wird, prägt den Siedlungsraum stark und ist wichtig!
MV: Ein solches Bauwerk mitten in einem Siedlungsgebiet ist keine alltägliche Aufgabe. Meist planen die Wasserbau-Ingenieure Eingriffe, die weit weg von der Zivilisation liegen. Draussen in der Landschaft sind Gestaltungsfragen weniger von Bedeutung.
Wie haben die Anwohnerinnen und Anwohner auf Ihren Gestaltungsvorschlag reagiert?
MV: Grundsätzlich spüren wir Vertrauen, doch wir trafen auch schon einmal vor Ort auf weinende Anwohner, die realisierten, dass nun vor ihrem Haus eine 3,5 Meter hohe Mauer zu stehen kommt. Auch hier ist es unsere Aufgabe, zu vermitteln. Inzwischen spüren die Leute, dass wir mit grosser Sorgfalt an diesem Projekt arbeiten.
GB: Wir stehen mitten im Geschehen. Einerseits verantworten wir das Gesamtprojekt, die technischen Massnahmen und die Kosten, andererseits möchten wir auf die Bedürfnisse und Emotionen der Anwohner eingehen – das ist eine sehr intensive Erfahrung.
Bis zum Abschluss der Bauarbeiten gilt es, auf unerwartete Vorkommnisse zu reagieren und die Finanzierung sicherzustellen. Werden wir die gerade von Ihnen beschriebenen Elemente in drei Jahren wiedererkennen?
MV: Das hoffe ich natürlich! Während der Planungsphase ist bei den involvierten Fachstellen des Kantons und bei der Gemeinde Bregaglia das Bewusstsein für die wichtigen Gestaltungselemente gewachsen. Während anfänglich das Verständnis für gewisse Aspekte fehlte, bringt die Gemeinde nun bereits eigene Ideen für zukünftige Nutzungen ein. Die Bevölkerung hat schon damit begonnen, sich die neuen Elemente anzueignen und sich Feste auszumalen, die zukünftig dort stattfinden können – das ist toll!
Bildnachweis
Hanspeter Schiess