Architektur Forum Ostschweiz

Patina und Atmosphäre sind unbezahlbar

Ein altes Industrieareal kann auch heute noch gut gebraucht werden. Im St.Galler Quartier Winkeln nutzen rund 70 Gewerbebetriebe die grossartigen Räume der ehemaligen Konservenfabrik.

Beitrag vom 15. Oktober 2016

Text: Caspar Schärer

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Nein, Alex Hanimann hat es nie bereut, dass er ein Atelier auf dem Areal der ehemaligen Konservenfabrik bezogen hat. Der 60jährige St. Galler Künstler gehört zu den langjährigen und treuen Mietern: Vor 25 Jahren hat er den Schritt aus der Innenstadt «hinaus» nach Winkeln gemacht. Die St. Galler Kunstszene ist ihm nicht gefolgt, auch wenn er nicht der einzige Künstler auf dem Konservi-Areal ist, wie es hier liebevoll genannt wird. «Mir ist das inzwischen ganz recht», erklärt Hanimann, «denn ich arbeite gerne in Ruhe». In seinem Atelier findet er ideale Bedingungen: über vier Meter hohe Räume, reichlich Platz und eine grosse Fensterfront nach Norden, auf den Fabrikhof. Gegenüber steht das mächtigste Gebäude des Areals; wenn die Fassade von der Sonne beschienen wird, leuchtet sie hell auf und strahlt in Hanimanns Atelier.

Dass sich ein Künstler gerne auf einem alten Industrieareal einrichtet, erstaunt den Journalisten aus Zürich nicht weiter. So läuft das doch immer auf diesen Brachen. Findige Immobilienspezialisten lassen Künstler und überhaupt so genannt Kreative ein paar Jahre gewähren – sie beleben das Areal und sorgen für Bekanntheit, bevor alles verschwindet und Neubauten mit Wohnungen und Büros hochgezogen werden. In vielen Schweizer Städten ist auf diese Weise ein Areal nach dem anderen umgenutzt worden.

Der Umbau von Industriebrachen gehörte in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren zu den Paradedisziplinen der Immobilienentwickler, selbst wenn in der Regel grosse Hindernisse im Weg stehen und ein solcher Prozess viel Wissen, Erfahrung und Geduld braucht. Aber am anderen Ende des Tunnels locken einfach zu schöne Rendite-Erwartungen: Oft sind die Areale gut erschlossen und die Nachfrage nach einigermassen zentral gelegenen Büro- und vor allem Wohnräumen ist fast überall hoch. In den Gewerbegebieten hingegen regiert der blanke Pragmatismus; meist stehen stumme Blechkisten beziehungslos nebeneinander. Ein über einige Jahrzehnte gewachsenes Industrieareal hat schlicht mehr Patina und Atmosphäre. Manches ist krumm und vielleicht nicht optimal, aber damit kann man sich arrangieren. Viel kostbarer als totale Perfektion sind die Räume – im Innern der Gebäude wie auch die dazwischen.

Das bestätigt Roman Holenstein von der Immobilien St. Gallen AG, Verwalter auf dem Konservenfabrik-Areal: «Die damaligen Baumeister haben uns extrem robuste Bauten hinterlassen. In einigen Gebäuden sind Bodenbelastungen von bis zu drei Tonnen möglich – im dritten Obergeschoss!»

Hierzu sollte man wissen, dass ein solcher Bau entsprechend stabil gebaut werden sollte, was ihn automatisch verteuert. Es seien aber keineswegs luxuriöse Bauten, versichert Holenstein. Die früheren Bauherren hätten genauso aufs Geld achten müssen. Aber sie hätten investiert und vielleicht nicht von jedem eingesetzten Franken verlangt, dass er im nächsten Quartal mit sechs Prozent rentiere. «Das ist im besten Sinne nachhaltig», sagt Holenstein.

Erfolgreich in der Nische

Er übernahm das Areal vor fünfzehn Jahren, kurz nach der Jahrtausendwende. Zusammen mit dem Eigentümer, dem Gossauer Nahrungsmittel-Industriellen Ernst Sutter, entwickelte er ein Vermietungskonzept, das eigentlich völlig naheliegend ist, aber aus heutiger Sicht fast schon exotisch wirkt. Sutter und Holenstein setzen auf kleine und mittlere Unternehmen, also auf KMU, die 99 Prozent aller Schweizer Betriebe ausmachen. Kleine und mittlere Gewerbebetriebe haben es zusehends schwer, in den Städten Räume zu finden – zu wertvoll ist der Boden und zu verlockend die Aussichten für die Landbesitzer, daraus mehr Kapital zu schlagen. Gleichzeitig können sie sich einen Neubau in einem Gewerbegebiet nicht leisten – sie fallen also zwischen Stuhl und Bank. In dieser Nische operieren Sutter und Holenstein mit dem Konservi-Areal, keineswegs als «Wohltätigkeitsverein», wie es der Verwalter ausdrückt. Die Liegenschaft müsse rentieren, doch er ist überzeugt davon, dass man auf diese Weise langfristig mehr Geld verdiene als mit einer Tabula-Rasa-Strategie.

Dabei ist es gar nicht so einfach, die verschiedenen Interessen und Ansprüche der Mieter zusammenzubringen. «KMU ist ein sehr allgemeiner Begriff», sagt Holenstein. «Dahinter steht eine grosse Vielfalt an Unternehmen: die sind etwas lauter, andere arbeiten eher still, bei den einen kommt täglich ein Lastwagen vorbei, die anderen tauchen nur am Wochenende auf.» Auf die enorme Diversität gibt es eigentlich nur eine Antwort: ein breites Angebot an unterschiedlichen Räumen. Genau das findet sich auf dem alten Industrieareal, Räume, die vielleicht zufällig entstanden sind und jetzt genau passen, Räume, die belastbar sind und erweitert werden können.

Rund 70 Betriebe mit 500 Arbeitsplätzen sind auf dem Konservenfabrik-Areal eingemietet, einen Überblick über die Vielfalt verschafft eine Tafel am Eingang. Das Spektrum reicht vom Nahrungsmittelfabrikanten über den Holzbauer, die Autowerkstatt und den Darmhandel bis zur Kampfsportschule und eben den Künstlerateliers.

Keine Nostalgie

Ende der 1980er-Jahre kaufte Ernst Sutter das vier Hektar grosse Areal, als die Konservenfabrik schon einige Jahre nicht mehr in Betrieb war. Die ältesten Bauten reichen bis Anfangs des 20. Jahrhunderts zurück, seither ist immer wieder etwas angefügt und neu gebaut worden. Da rücken die Bauten nahe zusammen, ein gewaltiges Dach schützt den Aussenraum vor Regen; dort wirkt es, als ob das Gebäude wie ein Wesen gewachsen sei, so unkontrolliert wurde angebaut; woanders wiederum ist der Raum klar gegliedert und übersichtlich. Bei einem Streifzug durch das Areal kommt man durch Strassen und Gassen, überquert Plätze, sieht Nischen mit Vor- und Rücksprüngen, überall Tore, Vordächer und Anlieferungsrampen.

Langeweile kommt hier nicht auf – und auch keine Nostalgie, denn Roman Holenstein ist Realist genug, um zu wissen, dass einige der Bauten am Ende ihres Lebenszyklus angelangt sind: «Dann müssen wir halt mal eines ersetzen oder aufstocken.» Veränderung, das macht er deutlich, soll weiterhin möglich sein auf dem Konservenfabrik-Areal. So wie es schon die ganze Zeit über war.

Bildnachweis

Hanspeter Schiess

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