Architektur Forum Ostschweiz

Wohninsel am Industriekanal

Zwischen dem Thurkanal und einem Wald­gebiet entsteht in Bürglen eine beispielhafte Siedlung mit mehr als 100 Wohnungen. Die Blumenau zeigt, dass an attraktiven Lagen bezahl­barer Wohn­raum möglich ist und dass es sich dank intelli­genter Archi­tektur auch in grossen Anlagen individuell leben lässt.

Beitrag vom 26. Oktober 2023

Text: Ulrike Hark

  • Bild zum Beitrag Mit zeitloser Architektursprache und hoher Wohnqualität bietet die Siedlung Blumenau grosses Potenzial. Die zweite Bauetappe wird im Jahr 2026 bezugsbereit sein.
  • Bild zum Beitrag Grosse Balkone, Aussensitzplätze, Durchgänge und ein aufgesetztes Attikageschossen lassen die grosse Anlage angenehm kleinteilig wirken.
  • Bild zum Beitrag Wenn 2026 auch die zweite Bauetappe abgeschlossen ist, werden rund 300 Menschen in der Siedlung leben.
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  • Bild zum Beitrag Die Wohnungen im Erdgeschoss verfügen über Aussensitzplätze.
  • Bild zum Beitrag Blick ins Treppenhaus
  • Bild zum Beitrag In der Mitte jeder Wohnung befindet sich ein Kern mit WC und Küche.

Gut, sieht die Besucherin die Blumenau nicht von oben. Aus der Vogel­perspektive fotografiert erscheint die Siedlung nämlich erschreckend gross. Zwei zueinander abge­winkelte Gebäude­zeilen ziehen sich 150 Meter am alten Industrie­kanal der Thur entlang und bilden in der Mitte einen Innen­hof. Nähert man sich jedoch zu Fuss, wirken die drei­stöckigen Gebäude mit den aufgesetzten Attika­geschossen bei jedem Schritt weniger mächtig. Luftige Durchgänge, grosszügige Balkone, vorgelagerte Sitz­plätze bei den Erd­geschoss­wohnungen und Pergolen zum Innenhof skalieren Höhe und Masse optisch auf ein angenehmes Mass.

Man wohnt dicht in der Blumenau, schliesslich ist der ökono­mische Umgang mit dem Boden ein Gebot der Stunde: Wenn die zweite Bau­etappe 2026 abge­schlossen ist, werden in der Siedlung rund 300 Menschen leben. Dennoch ist die Anlage alles andere als monoton und konventionell. Wald, Wasser und die ehe­maligen Fabrik­gebäude machen den speziellen Mix aus – Natur trifft auf industrielles Erbe. 1874 liess sich auf dem Gelände am ausgebauten Thur­kanal eine Kammgarn­spinnerei mit Kost­häusern für die Ange­stellten nieder. In den besten Zeiten stellten rund 370 Beschäftigte aus Roh­wolle edles Garn her. Die Wasser­kraft der Thur und die Bahn­linie lockten im 19. Jahrhundert etliche Gewerbe­betriebe an und brachten wirtschaft­lichen Schwung ins kleine Bauern­dorf Bürglen. Mit dem Nieder­gang der Textil­industrie musste dann aber auch die besagte Spinnerei in den 1990er-Jahren schliessen. Heute beherbergt sie Büros und Ateliers.

Geschickt in die Gesamtanlage integriert

Die Liegenschaft wurde 2015 von den Bau- und Immobilien­firmen Gehrig AG und Rütihof AG erworben. Da sie einem Gestaltungs­plan unterlag, schrieb man 2016 einen Wett­bewerb aus. Das Projekt von Antoniol + Huber + Partner Architekten aus Frauenfeld erhielt den Zuschlag – zu Recht: Die unge­künstelte, robuste Architektur mit ihrer sachlich-kühlen Aus­strahlung und strengen Gliederung spiegelt das industrielle Erbe. Einige historische Wohn­häuser, die zuvor etwas verloren auf dem Gelände standen, wurden geschickt in die Gesamt­anlage integriert, dies würdigt auch der Jury­bericht.

Die Architekt°­innen kombinierten in ihrem Projekt Garten-, Geschoss- und Attika­wohnungen sowie drei Reihen­häuser. So kann allmählich ein gut durch­mischtes neues Quartier mit 113 Wohn­einheiten entstehen – 69 davon zur Miete, 44 als Eigentums­wohnungen. Bei einem primär rendite­orientierten Bauen wäre das Verhältnis besten­falls umgekehrt gewesen, oder man hätte ganz auf Eigentums­wohnungen gesetzt. Die Mieten der 2,5- bis 5,5-Zimmer-Wohnungen liegen zwischen 1300 und 2300 Franken, die günstigste Eigentums­wohnung kostet 500'000 Franken.

Die relativ schmalen Wohn­einheiten sind in einfachen Grund­typen dicht auf der Parzelle zusammen­gefügt. Bepflanzte Mäuerchen schützen die privaten Innen- und Aussen­räume vor Ein­blicken. Mit ihrer Architektur­sprache erinnert die Blumenau an die gefeierte Siedlung Halen bei Bern. Mit dieser hatte das Berner Architektur­büro Atelier 5 in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre eine weg­weisende neue Wohn­typologie aus dicht aneinander­gereihten Reihen­haus­zeilen geschaffen, die einen sehr öko­nomischen Umgang mit dem Boden ermöglichte.

Privatheit und Gemeinschaft kombiniert

In Bürglen haben die Architekt°innen die Gebäude präzise an den geknickten Rändern des Grund­stücks platziert. Zwischen den Bauten spannt sich so ein grosser Hof­raum auf, der allen Bewohner­°innen zur Verfügung steht und gemein­sam genutzt werden kann: Frei angeordnet, wie vom Fluss gestaltet und angelehnt an den Thur­raum werden auf dem Gelände Bäume und Sträucher sowie Sitz­gelegenheiten und Spiel­geräte für Kinder ihren Platz finden. Noch ist die Anlage erst in Ansätzen zu erkennen.

Wandert der Blick vom Hof zu den Fassaden, stösst man auf eine subtile Irritation: Der Kalk­putz auf dem gedämmten Mauer­werk ist zwischen den Fenstern farbig abgesetzt; die oliv­grünen Streifen verlaufen in der Vertikalen leicht versetzt und erzeugen einen lebendigen Eindruck. Auch sind die Fenster der Attika­wohnungen eine Spur höher als die der unteren Geschosse, wodurch das oberste Geschoss leichter wirkt. All das ist raffiniert gemacht. Die bis zu 20 Quadrat­meter grossen Balkone verschaffen den schmalen Wohn­ungen Freiraum, zudem wird die Balkon­schicht immer wieder von zwei­geschossigen, luftigen Räumen durch­stossen, was den unteren Wohn­ungen zusätzlich Licht bringt und Attika-Feeling verleiht.

Im Inneren profitieren alle Bewohner­°innen vom Grundriss, der sich über die gesamte Tiefe der Gebäude erstreckt, dem sogenannten «Durch­wohnen». Der Blick reicht durch bodentiefe Fenster zu beiden Seiten entweder vom Wald zum Hof oder vom Hof zum Kanal. Privat­heit oder Gemein­schaft sind so jederzeit möglich. Mittig liegt jeweils ein Kern mit WC und Küche. Der Wohn- und Ess­raum sowie die Schlaf­zimmer orientieren sich je nach Lage der Wohnung zur jeweils attraktiven Seite. Besonders reizvoll ist die Aussicht zum nahen Wald: Am Abend sind dort Rehe zu beobachten, die auf der grossen Wiese äsen.

So klug die Siedlung in ihrem Konzept auch ist, beim Innen­ausbau wurden keine grossen Stricke zerrissen. Er entspricht dem Standard: weisse Türen und Wände, Parkett­boden. Alles wirkt ein wenig glatt und konturlos. Ein Schuss rauer Industrie­charakter etwa hätte den Wohnungen gutgetan und dem Umfeld besser ent­sprochen.

In der Berner Siedlung Halen, an welche die Blumenau erinnert, wohnen heute – über 60 Jahre nach dem Bezug – bereits die Enkel der Pionier°innen. Und das Interesse an der Architektur-Ikone ist ungebrochen. Die Thurgauer Blumenau hat als Siedlung mit hoher Wohn­qualität und dank ihrer zeitlosen, präzisen Archi­tektur­sprache durchaus das Zeug, es Halen gleichzutun. Die Zeit wird es zeigen. Schade nur, dass aus­gerechnet ihr Namens­geber, das alte Restaurant Blumenau am Bahn­gleis, bald nicht mehr existieren wird. Bewirtet wird dort schon lange nicht mehr, der Abbruch ist besiegelt. Dabei wäre doch in einem jungen Quartier ein Restaurant eine attraktive Ergänzung.

Bildnachweis

Ladina Bischof

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