Bücherrad und fahrbare Leitern
Dem temporären Charakter entsprechend waltet in der Bibliothek in der St.Galler Hauptpost das Flüchtige des gesprochenen Worts, das Mobile von fahrbaren Leitern und der schöne Schein eines Bühnenbilds.
Beitrag vom 25. Juli 2015
Text: Rahel Hartmann Schweizer
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Es war ein ehrgeiziges Projekt, die bestehende Kantonsbibliothek Vadiana, die städtische Freihandbibliothek und die Frauenbibliothek Wyborada im Postgebäude zusammenzuführen.
Und es war ein Bekenntnis zur Buch-Tradition der Gallus-Stadt, die mit der Stiftsbibliothek eine der ältesten Bibliotheken der Welt beheimatet, als der Kanton den Post-Bau für 29 Millionen Franken kaufte.
Doch Brief und Siegel gab am Ende nicht die Politik, die sich dem Spardruck beugte und das 70-Millionen-Franken-Projekt auf Eis legte, sondern das Volk, das mit einer Initiative so viel Gegendruck erzeugte, dass es schliesslich zur Ausarbeitung einer redimensionierten Lösung kam. In einer Ausmarchung zwischen fünf Teams erhielt das Architektenduo Barao Hutter mit seinem Projekt Spoken-Words den Zuschlag, das erste Geschoss der Post mit einem Budget von 4,2 Millionen Franken umzubauen, um die Bestände der Kantonsbibliothek Vadiana und die Bücher und Medien für Erwachsene der Stadtbibliothek aufzunehmen.
Peter Hutter und Ivo Mendes Barao hatten im Jahr 2010 den vom Verein Südkultur lancierten Wettbewerb «Baukultur entwickeln »mit dem Projekt «Arkadia» gewonnen. Mit dem senkrecht stehenden, am First einen Bogen beschreibenden Stahlblech als Warteunterstand oder Plakatwand haben sie bewiesen, dass sie Funktionalität mit Originalität zu verbinden verstehen.
Wäre es möglich, diese Charakterzüge auch in einem Eingriff an einem so Respekt einflössenden Bau zu verwirklichen, wie es die zwischen 1911 und 1913 errichtete Hauptpost am St. Galler Bahnhofplatz ist? Das ausführende Büro Pfleghard & Haefeli war nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nicht nur eines der renommiertesten im Raum Zürich, sondern etablierte sich mit Geschäfts- und Kontorhäusern für die Stickereiindustrie auch in St. Gallen.
Schnörkellos und schmuck
Aussen zeichnet sich das Postgebäude durch gezielt gesetzten bildhauerischen Schmuck aus, während es im Innern von einer schnörkellosen Stahlbeton-Skelettkonstruktion getragen ist. Diese beiden Komponenten haben Barao Hutter in ihrem Umbau miteinander verbunden. Ebenso dekorativ wie funktional beginnt es bereits beim Eingang, über dem aufgefächerte Bücher signalisieren, wo es zur Bibliothek geht.
Dass sie nicht an der Fassade prangen, mag dazu führen, dass sie übersehen werden – überhören dagegen vielleicht nicht, wenn im Verlaufe des Tages sporadisch ab CD Texte eingespielt werden.
Sprechende Bücher
Die sprechenden Bücher lassen sich in der Flüchtigkeit des gesprochenen Wortes einerseits als Anspielung auf die mittelalterliche Verschriftlichung vordem mündlich vorgetragener Texte und Gesänge lesen beziehungsweise hören – nicht zuletzt auch des Gallus-Liedes. Andererseits verknüpfen sie sich mit der vor dreissig Jahren aufgekommenen Technologie der Hörbücher, die in ihrer Entstehungszeit ebenfalls als «sprechende Bücher» tituliert wurden, und schliesslich mit der zeitgenössischen Slam Poetry.
Das flüchtige Wort ebenso wie das Labile der aufgehängten Installation passt zu einem Ort, der als temporäre Einrichtung qualifiziert ist – einem Aspekt, dem die Architekten auch im Innern Rechnung tragen.
Nach dem Aufstieg im Treppenhaus ins erste Geschoss empfängt einen zunächst das «Cafe St-Gall» mit Zeitungen und Zeitschriften. Dessen Blickfang ist ein Paravent, der bei Veranstaltungen als Bühnenbild figuriert. Er lässt sich als indirekte Referenz an Pfleghard & Haefeli lesen – stammt er doch aus einem Stickereiunternehmen, demjenigen von Jakob Schläpfer.
Flussbarsch in der Halle
Dahinter erstreckt sich die Präsenzbibliothek. Für den Umgang mit der Halle haben die Architekten ein symbolisches Bild gewählt: die «Skelettstruktur des Knochenfisches Perca fluviatilis» (Flussbarsch). Sie steht stellvertretend für das Merkmal des ursprünglichen Baus von Pfleghard & Haefeli. Barao Hutter haben die Roheit der Stahlbetonkonstruktion belassen. Demgegenüber zeigt die Decke des ehemaligen Direktorenzimmers noch Spuren von Stuck, und das Turmzimmer, in dem die Kantonsbibliothek Vadiana erstmals die Sangallensien präsentieren kann, wartet mit einem roten Teppich auf.
Ideal und Wirklichkeit
Bei der Ausstattung, die auf Entwürfen der Architekten basiert, kommt das Flair des Duos für Kleinarchitekturen zum Vorschein, das es mit «Arkadia» bewiesen hatte. Der Leuchter im Turmzimmer ist ein in Leuchtröhren aufgelöster Lampenschirm, das Bücherrad will einem als eine Erinnerung an die einstige Nutzung als Sortierhalle erscheinen und die auf Schienen fahrbaren Leitern als Liebäugeln mit denjenigen in der Stiftsbibliothek.
«Möge niemand, wie Schiller sagt, das dürftige Ergebnis der Wirklichkeit allzu peinlich an dem Masstab der Vollkommenheit messen, denn, fügt Carlyle bei, die Ideale bleiben immer in einer gewissen Entfernung, und mit einer leidlichen Annäherung an sie wollen wir uns dankbar zufrieden geben», schrieb die «Schweizerische Bauzeitung» zur Vollendung der Hauptpost vor fast auf den Tag genau 100 Jahren.
Damals war das Ungelöste – namentlich die städtebauliche Setzung – buchstäblich in Stein gemeisselt. Das Provisorische nun zum Kern des Umbaus gemacht zu haben, der auf dem Zurückbuchstabieren des ursprünglichen 70-Millionen-Franken beruht, ist vor diesem Hintergrund erst recht adäquat. An das Fernziel des Bibliotheksverbunds werden die sprechenden Bücher gemahnen.
Bildnachweis
Hanspeter Schiess