Gewagt, gewagter, s’Wagi
Alles andere als eintönig präsentiert sich das Schaffhauser Wagenareal und tanzt aus der Reihe der bisherigen genossenschaftlichen Wohnsiedlungen der Stadt. Auf planerischer Ebene und auch hinsichtlich des Zusammenlebens haucht das Leuchtturmprojekt dem ehemaligen Industriegelände neues Leben ein.
Beitrag vom 26. April 2024
Text: Theresa Mörtl
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«Wer nicht wagt, der nicht gewinnt» – ein Motto, das den Umnutzungsprozess des Wagenareals auf den Punkt bringt. In nur kurzer Gehdistanz zum Schaffhauser Zentrum befindet sich das 5000 Quadratmeter grosse Grundstück, eingebettet in ein bestehendes Quartier von Einfamilien- und kleineren Mehrfamilienhäusern. 2018 erhielten die Architekten Roland Hofer, Lukas Somm und Roger Eifler, die Soziokultur-Planerin Mirjam Candan sowie die Landschaftsarchitektin Catherine Blum den Zuschlag für einen Studienauftrag inklusive Baurechtsvergabe der Stadt. Das Team entwickelte das Areal der ehemaligen Wagenfabrik interdisziplinär und unter Einbezug landschaftsarchitektonischer und soziokultureller Aspekte.
Angestrebt wurde ein vielfältiges Wohnprojekt, das genossenschaftlich geführt und selbstverwaltet organisiert ist. Da keine der rund 20 lokalen Genossenschaften für das Projekt gewonnen werden konnte – mit dem Hinweis auf die periphere Lage Schaffhausens hatten die angefragten Zürcher und Winterthurer Wohnbaugenossenschaften abgesagt –, ergriffen die Architekt*innen selbst die Initiative. Mit der Neugründung ihrer Genossenschaft Legeno lösten sie nicht nur das Problem eines fehlenden Bauträgers, sondern verleihen dem genossenschaftlichen Wohnungswesen in der Kantonshauptstadt auch neuen Schwung.
Gegen den Strom schwimmen
Mit diesem Entschluss schlugen sie einen unüblichen Weg der Projektrealisierung ein: Normalerweise erwirbt eine Genossenschaft oder ein Bauträger ein Grundstück und schreibt dann im Idealfall einen Wettbewerb aus, um das Bauprojekt in Zusammenarbeit mit einem Architekturbüro umzusetzen. Die in diesem Fall fehlende Bauherrschaft wurde durch die Genossenschaftsgründung gestellt. Das Team der Architekt*innen hatte also forthin eine Doppelrolle und vereinte im Rahmen der Umnutzung gestalterische mit soziokulturellen Ansprüchen. Letztere sind in den Statuten verankert.
Diese Doppelfunktion hatte jedoch neben den baurechtlichen Herausforderungen auch einiges an Bürokratie rund um die Finanzierung und die Genossenschaft zur Folge: Das Trio erarbeitete Leitbild und Statuten sowie alle für die Genossenschaft und die Vermietung notwendigen Reglemente, die gleichzeitig die Grundlage für die finanzielle Unterstützung durch den Bund darstellten. Die Genossenschaft muss gemeinnützig sein und zudem einen umfangreichen Kriterienkatalog hinsichtlich Grundrissplanung, Mobilitätskonzept und dergleichen erfüllen. Eine Knacknuss war der niedrige Richtwert für die Mieten, der in Schaffhausen auf den sehr hohen Anteil an Altbausubstanz zurückzuführen ist. Dem gegenüber stehen die stetig steigenden Baukosten für Neubauten, die im Rahmen einer gemeinnützigen Wohnraumvermietung gedeckt werden müssen, wobei jedoch kein Gewinn generiert werden darf. Eine Tatsache, die es zur Herausforderung macht, günstigen Wohnraum im genossenschaftlichen Neubau zu schaffen.
Volles Programm
Gleichzeitig gewährte die Umnutzung den Planenden grosse Freiheit in der Gestaltung, sodass sie das Raumprogramm selbst definieren und dem Genossenschaftsleitbild anpassen konnten. In diesem spielt neben der sozialen Durchmischung, die sowohl generationsübergreifend als auch kulturell beabsichtigt war, insbesondere der Aspekt des alltäglichen Lebens eine übergeordnete Rolle. So ergänzen eine Werkstatt, Büro- und Gewerberäume, Gemeinschaftsräume zum Mieten sowie gemeinschaftliche Dachgärten die insgesamt 25 Wohnungen mit unterschiedlichen Grössen und Grundrissen und eröffnen ein umfangreiches Angebot im «Wagi».
Unterstrichen wird der soziale Aspekt zudem durch den neu gestalteten Quartiertreff im bestehenden und sanierten Kopfbau des ehemaligen Industrieareals. Er stellt einen Treffpunkt für die gesamte Nachbarschaft dar und bietet Raum zum Feiern, Diskutieren und Geniessen. Gleichzeitig fördern öffentliche Angebote die Einbindung des neuen Wagenareals in die bestehende Umgebung sowie den Aufbau einer guten Nachbarschaft. Durch die innen liegenden Laubengänge und den zentralen Innenhof entsteht ein fliessender Übergang von den eigenen vier Wänden über die halböffentlichen Zwischenräume bis hin zu den öffentlichen und gemeinschaftlichen Aussenräumen. Zu letzteren gehören auch die zwei Dachgärten, die eine Gartengruppe pflegt und unterhält.
Viel Neues
Als erstes SIA-2040-Projekt sowie erste autoarme Überbauung im Kanton wird im «Wagi» der Fokus verstärkt auf die Soziokultur gerichtet, die bei älteren Genossenschaftsprojekten in Schaffhausen oft in den Hintergrund getreten ist. Mit dem Ansatz, mehr als nur Wohnraum zu bieten, ist das Projekt ein Weckruf für das genossenschaftliche und gemeinnützige Wohnen im Kanton. Das «Wagi» vereint eine qualitative Bauweise, hochwertigen Innenausbau, Gemeinschaft in allen Facetten und Freizeitgestaltung unter einem Dach. Dazu leisten auch das von der Genossenschaft zur Verfügung gestellte E-Carsharing für die Bewohnenden und die weiterreichende Nachbarschaft einen Beitrag. «Wohnst du noch oder lebst du schon?» ist hier kein Marketingspruch, sondern Leitbild und gelebte Philosophie der neuen Genossenschaft.
Bildnachweis
Ladina Bischof