Weiterbauen am Erbe der Schweiz
Mit der zweiten Hinterrheinbrücke in Reichenau setzt die Rhätische Bahn die hohe Kunst des Brückenbaus in der Schweiz fort
Beitrag vom 1. Mai 2021
Text: Katharina Marchal
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Langsam fährt der rote Zug in den Bahnhof Thusis ein. Wanderer, Skifahrer und Einheimische steigen ein und aus. Dann setzt sich die Rhätische Bahn (RhB) wieder in Bewegung. Seit 130 Jahren erklimmt sie die Berge im Kanton Graubünden. Dabei überwinden die Albula- und Berninalinie rund 1000 Höhenmeter. Die beeindruckenden Schluchten sowie zahlreichen Flüsse und Bäche werden von rund 600 Brücken und Viadukte aus Stahl und Stein überquert. Diese sind Zeitzeugen vom hohen Niveau, auf dem sich die Ingenieurskunst in der Schweiz bewegt. Und sie zeigen in eindrücklicher Weise, wie sich das konstruktive Wissen, die Materialien, die industrielle Produktion und die ästhetische Auffassung im Ingenieurwesen entwickelt haben.
Als Auszeichnung wurde die Linie zwischen Thusis und Tirano mitsamt ihrer Infrastruktur 2008 in die Unesco-Welterbeliste aufgenommen. Doch Bahnbrücken sind bedroht – und zwar vom eigenen Erfolg der Bahnen: Viele der in die Jahre gekommenen Bauwerke müssen wegen des wachsenden Verkehrs verstärkt, ersetzt oder ausgebaut werden. Das stellt die RhB vor die anspruchsvolle Frage, wie sie an ihrem grossen Erbe weiterbauen soll. So auch bei der Hinterrheinbrücke bei Reichenau–Tamins.
Hier, wo Hinter- und Vorderrhein zusammenfliessen, erstellte 1895 die Basler Firma Albert Buss AG eine feingliedrige Fachwerkkonstruktion mit vierfachem Strebenbezug. Da es sich um eine elegante Brücke mit einem seltenen Konstruktionsprinzip handelt, steht sie unter Denkmalschutz.
«Es ist nichts schwieriger, als einfach und elegant zu bauen»
Doch auch dieses Ingenieur-Schmuckstück wurde renovationsbedürftig. Da ein längeres Aussetzen des Bahnbetriebs undenkbar ist, begann die RhB über den Bau einer zweiten Eisenbahnbrücke über den Hinterrhein nachzudenken. Dafür sprach auch die einspurige Trassierung, die entweder die Albula- oder die Surselvalinie blockierte. Mit einer zweiten Brücke kann der Zugverkehr flüssiger gestaltet und das Angebot der Bahn ausgebaut werden. Da es sich um eine sehr komplexe Bauaufgabe handelt, schrieb die Rhätische Bahn einen Projektwettbewerb im Sinne der Schweizerischen Ingenieur- und Architektenverein (SIA) aus, den ersten in ihrer Geschichte! Dieses Projekt und die Vorgehensweise hat somit Vorbildcharakter für weitere Brückenbauten und für öffentliche Bauherren. «Es ist nichts schwieriger, als elegant und einfach zu bauen», fasst der Ingenieur Andreas Galmarini von Walt-Galmarini eine der wichtigsten Aufgaben seiner Disziplin zusammen. 2015 gewann das Ingenieurbüro im Team mit Flint&Neill Ingenieure (heute: Cowi UK), Dissling+Weitling Architekten und Hager Partner Landschaftsarchitekten den Wettbewerb für die Hinterrheinbrücke. Ziel war ein schlichtes, zurückhaltendes Bauwerk, das die bestehende Brücke ergänzt, sie aber nicht konkurrenziert. Dies ist umfassend gelungen. Die elegante, feingliedrige V-Stiel-Brücke orientiert sich zwar in der Materialwahl an der historischen Stahlfachwerkbrücke, nimmt sich allerdings gegenüber dem Bestand und innerhalb der vielfältigen Landschaft zurück. Mit Blick auf die Fachwerkbrücke ist die dahinterliegende neue Stahlbrücke kaum sichtbar. Doch gleichzeitig ist die «Sora Giuvna» («kleine Schwester»), so der Name des Wettbewerbsprojekts, eine zeitgemässe Antwort auf den Bestand und setzt das Erbe der Rhätischen Bahn gebührend fort. Ein schlanker Stahltrog mit v-förmigen Streben ruht auf schlichten Betonpfeilern und Widerlagern. Die Materialisierung und sorgfältige Ausgestaltung der konstruktiven Details gewährleisten geringe Betriebskosten und Dauerhaftigkeit.
So schlicht das Bauwerk erscheint, umso komplexer waren die Anforderungen und Umstände. Der zweispurige Ausbau der Linie Chur–Tamins ist mit der Fertigstellung der zweiten und mit der Sanierung der bestehenden Brücke im Jahr 2019 abgeschlossen. Seither können die beiden Linien von Thusis und von Ilanz getrennt in den Bahnhof von Reichenau geführt werden. Und die RhB kann die Fahrplanstabilität in diesem Engpass massiv erhöhen. Dieses Projekt erforderte jedoch eine anspruchsvolle Regelung des Bauablaufs. Dazu gehörte auch, dass die Bahn- und Strasseninfrastruktur während des Baus in Betrieb blieb. Die neue Stahlbrücke mit einer Hauptspannweite von 63 Metern überspannt nicht nur den Hinterrhein, sondern auch die Nationalstrasse A13.
Um die Landschaft zu stärken und die Strasse nicht zu verengen, wurden die bergseitigen Widerlager hinter den bestehenden Stützmauern versteckt. An Stelle von weiteren Stützmauern wurde der Hang oberhalb der Gleise abgetragen. Damit integriert sich das neue Bauwerk in die Landschaft, und der Eingriff in die Natur ist auf das Nötigste reduziert. Dies entspricht den Vorstellungen eines Naturschutzgebiets und dem natürlichen Prozess. Das während des Baus entnommene Material wurde wieder eingesetzt; die Landschaft konnte damit kontinuierlich nachgrünen.
Alte und neue Brücke sind mit dem Uferweg verbunden
Ausserdem ermöglichte die Renovation der alten Fachwerkbrücke ein schönes Nebenprojekt. Seit der Wiedereröffnung nutzen Wanderer oder Spaziergänger den ehemaligen «Dienststeg» auf der Brückenunterseite und gelangen so direkt zum beliebten Ruinaultaweg nach Trin oder Bonaduz. Am Zugang gibt es eine weitere Überraschung. Für den Unterhalt müssen die Widerlager zugänglich bleiben. Dafür ist ein eigener Aufgang im Betonauflager der Stahlbrücke vorgesehen. Diese Treppenanlage wird nun nicht nur für die technischen Arbeiten genutzt, sondern verbindet auch die Ebenen der alten und der neuen Brücke mit dem Uferweg.
Der Zugang in das Auflager ist beeindruckend. Über eine zulaufende Kaskadentreppe gelangen die Fussgänger zu dem pyramidengleichen Eingang. Innerhalb des historischen Fachwerks geht der Blick zurück auf die schlichte und zugleich innovative «jüngere» Schwester. Diese knüpft an die bestehend hohe Baukultur in der Region Graubünden an und fügt sich ganz selbstverständlich in die eindrückliche Landschaft ein.